Das Sozialsystem soll von Armut betroffene Menschen unterstützen und ihnen ein menschwürdiges Leben garantieren. In der Schweiz beziehen aber etwa ein Viertel der Menschen, die Anspruch auf Sozialhilfe hätten, diese nicht. Horizonte sprach mit Prof. Oliver Hümbelin der Fachhochschule Bern über die Gründe und Konsequenzen davon.
Warum beziehen Betroffene die Leistungen nicht, auf die sie Anspruch haben?
Es gibt unterschiedliche Gründe. Für Migrant:innen stellen die Sprache und Kenntnisse des Sozialsystems häufig eine Hürde dar. Informationen zu den Anspruchsbedingungen sind hauptsächlich in der Landessprache. Zudem sind viele Formulare kompliziert, auch wenn man die Landesprache kann. Unabhängig davon berichten Betroffene häufig von Scham und der Furcht, die Unabhängigkeit zu verlieren. Staatliche Leistungen zu beanspruchen, fällt vielen nicht einfach. Auch die rechtliche Situation hat einen Einfluss: z.B. gibt es die Rückzahlungspflicht, die nicht überall gleich streng umgesetzt wird. Es ist eine Form des Verschuldens. Das schreckt ab. Bei Migrant:innen kommt die Furcht vor migrationsrechtlichen Konsequenzen hinzu (Rückstufung der C-Bewilligung, Verlust der Aufenthaltsbewilligung, kein Recht auf Familiennachzug bei Ergänzungsleistungen). In unserer Studie für Baselstadt haben wir in diesem Zusammenhang im Jahr 2020 eine Zunahme beobachtet bei Personen mit C-Bewilligung, insbesondere aus Drittstaaten. 2020 war der Beginn der Corona Pandemie. Dieser war mit verschiedenen wirtschaftlichen Einschränkungen verbunden. Es gab eine Zunahme der versteckten Armut. Mehr Menschen sind in die Situation gekommen, dass sie Anspruch auf Sozialhilfe oder andere Leistungen hätten, aber diese nicht bezogen haben. Da hat die Revision des AIG im 2019 sicherlich eine Rolle gespielt. Das AIG hat sehr viele Unsicherheiten ausgelöst. Schon nur zu wissen, dass es potenziell Konsequenzen haben kann, schreckt ab.
Im sozialen Bereich wird kritisch beobachtet, wie die Verschärfungen des Migrationsrecht im Sozialsystem interveniert. Dies ist keine günstige Entwicklung. Auf Ebene des Sozialwesens sollten fachliche Argumente stärker berücksichtigt werden und was Menschen in einer Notlage benötigen.
Inwiefern spielt die mediale Kritik von Menschen, die Sozialhilfe beziehen, eine Rolle?
Wenn man mit Betroffenen redet, merkt man, dass die medial vermittelten Bilder und der Diskurs der Medien schon in den Köpfen sind. Wie Armut in den Medien thematisiert wird, wie Betroffene oder ganze Bevölkerungsgruppen im öffentlichen Diskurs erwähnt werden, hat eine Wirkung. Dies ist auch von gewissen Gruppen politisch so gewollt.
«Migrant:innen haben ein höheres Armutsrisiko als Schweizer:innen. Gleichzeitig ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Sozialhilfe beziehen, etwas geringer.»
Steht der Nicht-Bezug von Sozialleistungen aber nicht im Widerspruch zu diesem medialen Diskurs?
Das könnte man so sagen, ja. Es gibt deutlich mehr Leute, die unter der Armutsgrenze ohne Sozialhilfe leben und ganz wenige, bei denen möglicherweise irgendetwas nicht richtig gelaufen ist. Es wird sehr streng geschaut. Die Grösse des Apparates, der prüft, dass nichts Falsches gemacht wird, und die ganz wenigen Fällen von Missbrauch pro Jahr stehen im Widerspruch zu den viel mehr Menschen, die unter der Armutsschwelle leben und keine Unterstützung beanspruchen und hierzu wird kaum etwas unternommen.
Was machen von Armut betroffene Menschen, die keine Sozialleistungen beziehen?
Auch hier lassen sich verschiedene Handlungsmuster erkennen. Einige suchen Unterstützung in privaten Netzwerken, wie Familien oder Bekannten, oder in alternativen Strukturen, wie caritative Organisationen. Das kann problematisch sein, weil manche sich so möglicherweise privat verschulden. Viele schränken sich zudem ein und stellen sich auf ein Leben mit sehr wenig ein. Man geht nicht mehr zum Arzt oder zum Zahnarzt, man zieht sich aus dem sozialen Leben zurück. Die Konsequenz ist, dass diese Menschen vereinsamen. Und so kann sich eine Armutslage chronifizieren: es geht gesundheitlich immer schlechter, es stauen sich Probleme an, die man mit einer frühzeitigen Beratung vielleicht hätte, verhindern könnte.
Was für gesellschaftlichen Konsequenzen kann der Nicht-Bezug haben?
Es schwächt zunächst den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Es können daraus für die Gesellschaft aber ganz handfeste Probleme erwachsen. Es gibt ein erhöhtes Risiko, dass die Menschen kriminell werden. Wenn sie keinen Weg mehr sehen, dann suchen sie vielleicht Möglichkeiten ausserhalb der gesellschaftlichen Regeln. Aber auch sonst kann die Situation dieser Menschen ein Problem für die Gesellschaft werden. Wenn man z.B. nicht zum Arzt geht und daraus gesundheitliche Probleme resultieren, kann daraus eine Notsituation entstehen. Dies verursacht zusätzliche Kosten, die von der Allgemeinheit getragen werden müssen. Leben Kinder im Haushalt, besteht zudem die Gefahr, dass sie nicht optimal gefördert werden und sich die Armutslage vererbt. Aus fachlicher Perspektive ist klar, dass es wünschenswert ist, dass man die Betroffenen möglichst früh berät. Mit dem Nicht-Bezug ist eben auch verbunden, dass man auch nicht beraten wird. Dabei wäre für die Betroffenen wichtig, dass jemand, der das System gut kennt und auch weiss, was es für Möglichkeiten gibt, einen Weg aus der Notlage zu finden, sie unterstützt. Solche Interventionen funktionieren am besten, wenn sie möglichst früh in einer Notlage stattfinden. Aber häufig versuchen Betroffene, irgendwie selbst einen Weg zu finden. Sie suchen erst Hilfe, wenn schon zu viel passiert ist und die Situation sich verschlimmert hat. Deswegen wäre es wichtig, früher zum Sozialamt zu gehen und sich zumindest über die Unterstützungsmöglichkeiten aufklären zu lassen.